Hier können Familien Kaffee kochen

Sonntags, wenn früh die Sommersonne durch die Ritzen des Schlafzimmerfensters lugte, aber in der Küche alles still blieb., lag ich in meinem Bett und lauschte mißtrauisch. Warum rumorte meine Mutter noch nicht in der Küche herum? Stellte sie nichts für einen Motorradausflug zusammen?

Ich kannte sie! Ab und zu kam es vor, daß sie einen Rappel kriegte. Aus heiterem Himmel heraus behauptete sie dann, wir müßten meiner Schwester Gisela auch mal wieder etwas bieten. Das hieß im Klartext, Gisela sollte im Schutze der Familie zum Tanz in ein Gartenlokal geführt werden. Gisela war 17 Jahre alt und ich 7. Also mußte es 1936 gewesen sein. Zuerst versuchte mein Vater, wenn es wieder soweit war, durch offene Meuterei das Schicksal von uns abzuwenden, aber es half nie.

Wenn sich meine Mutter etwas in den Kopf gesetzt hatte, hielt sie unerbittlich daran fest. Ich streifte mit meinem Vater lieber durch die Wälder, suchte Pilze, Blaubeeren und versteckte Schätze zwischen Baumwurzeln. Mein Vater war kein begeisterter Tänzer - aber was blieb ihm übrig? Brav zwängte er sich also in ein Oberhemd mit steifem Kragen, band eine flotte Krawatte um und stieg in den guten Anzug. Für seine glänzenden Schuhe war ich zuständig. Die zu wienern war laut Verordnung meiner Mutter, meine Aufgabe. Ich fügte mich widerwillig. Wenn mein Papa auch mein großer Zampano war, seine Schuhe putzte ich nicht gerne.

Vor so einem Tanzvergnügen stocherte meine Mutter mittags immer wie ein Spätzchen in ihrem Essen herum und behauptete, sie wisse auch nicht warum, aber sie habe heute gar keinen Appetit. Ich durchschaute sie. Sie wollte nur mit einer superschlanken Taille imponieren. Ich wußte was nun kam.

Dann, gleich nach dem Essen, begann für mich das Schauspiel: Das Schnüren ihres Korsetts! Das Ding bestand aus festem rosafarbenen Seidensatin und reichte von den Achselhöhlen bis hinunter unter die Hüften. Überall hatte es gesteppte Nähte und eingearbeitete lange elastische Metallstäbe, damit es glatt und aufrecht ohne Falten blieb. Man konnte sich zwar in so einem Panzer hinsetzen, aber ganz bestimmt drückten die Stäbe und bohrten sich ins Fleisch. Auf dem Rücken war es von oben bis unten offen und wurde von einer glänzenden rosa Korsettschnur über Kreuz, so wie man auch Schuhe zuschnürt, zusammengezogen - je fester, desto besser. Immer wenn mein Vater hinter meiner Mutter stand und an den Schnüren zog, legte sie die Hände flach auf die Hüften - die Arme leicht nach außen abgewinkelt, reckte den Oberkörper etwas hoch und atmete tief aus.

Sie versuchte einige Zeit ohne atmen auszukommen, damit mein Vater recht fest schnüren konnte. Manchmal riß das Band dabei und dann fluchte er und ich lachte. Nun mußte er mühsam knippern, das haßte er wie die Pest. Er griff dann zwischen die Kreuze der Bänder, um die Spannung besser zu verteilen und das sah so lustig aus, weil er viel zu wurstartige Finger hatte. Er konnte nie verstehen, warum sich meine Mutter in so eine unmögliche Rüstung zwängte. Sie erwiderte nur kurz: "Davon verstehst du nichts - das muß sein!" Immer endete die Prozedur damit, daß er schimpfte, jetzt sei es genug, sonst falle sie noch in Ohnmacht. Ihm sei sie sowieso am allerliebsten ohne Korsett - und dabei grinste er so frech. Meine Mutter protestierte: "Aber doch nicht vor dem Kind." Ich überlegte lange, was er wohl gemeint haben könnte; mir gefiel sie im Korsett besser.

Stand meine Mutter dann im bunten Kleid vor uns, sah sie wirklich hübsch aus, so mit hohem Busen und Wespentaille. Dann waren wir stolz und bewunderten sie und sie genoß es.

Die Schminkutensilien verwendete meine Mutter äußerst sparsam. Sie besaß einen Block mit Puderpapier. Zwei Blättchen genügten, um den Glanz aus dem Gesicht zu nehmen und den Teint rosig und matt erscheinen zu lassen. Ja - einen Lippenstift hatte sie auch, aber sie tupfte und wischte mit dem kleinen Finger nur vorsichtig etwas Farbe von ihm auf ihre Lippen - nur eine Spur durfte zu sehen sein. Auf keinen Fall durfte der Mund grell leuchten, das wäre in ihren Augen ordinär gewesen. Von ihrem Parfüm, von dem sie sich je ein Tröpfchen hinter die Ohrläppchen und an die Handgelenke tupfte, schwärme ich in Gedanken noch immer. Es hatte den Duft blühender Maiglöckchen, und war von der Firma Dralle. Es befand sich in einem kleinen, schmalen, hohen Glasflakon, welcher in einer entzückend gedrechselten Holzdose in Form eines Leuchtturms steckte. Dieses Parfüm war damals in der Damenwelt außerordentlich beliebt. Es gab auch Düfte von Veilchen, Flieder oder Rose. Französische Duftkreationen kannte meine Mutter nicht.

Gisela durfte sich nicht einmal so sparsam schminken wie meine Mutter. Ein junges Mädchen wirkt durch Frische und Anmut, hieß es. Aber Gisela hatte so ihre eigenen Tricks auf Lager. Sie kniff sich in die Wangen bis sie rosig erglühten und auf ihren Lippen kaute und biß sie herum, bis sie rot wirkten wie angemalt. Um ihre Augenbrauen zu betonen, brannte sie Streichhölzer ab, und zog mit dem verkohlten Ende die Brauen nach. Von dem Parfüm stibitzte sie ein Tröpfchen und Mutti merkte es nie, weil sie selbst danach duftete. In den Büstenhalter stopfte sie in die Spitzen Wattebüschel, denn sie erschien sich zu flachbrüstig. Neidisch betrachtete ich ihre verbesserten Formen. Natürlich legte man auf Giselas Kleid besonderen Wert. Die umsichtige Mutter war wohl im Geheimen auf der Suche nach einem Freier für die fast heiratsfähige Tochter.

Meine Ausstaffierung bereitete keine Probleme. Meine Kleidchen unterlagen einem festen Reglement. Da gab es Ausgehkleidchen und Sonntagskleider - dann Schulkleider und endlich Spielkleider. Jedes Jahr, je nach meinem Wuchs, verrutschte diese Aufstellung. Dann wurden aus Sonntagskleidern Schulkleider, aus Schulkleidern Spielkleider. Unsere Schneiderin, Frau Zimmermann aus der Rhinstraße, deren Haus oben auf der Anhöhe lag, nicht weit von der Ecke, um die die Straßenbahn 69 quietschte, hatte reichlich für uns zu tun. Meine Mutter legte Wert auf gute Kleidung - was aber nicht ausschloss, daß für mich auch verlängert wurde, wenn es nötig war oder weiter gemacht.

Ich freute mich immer auf die Zeit vor Pfingsten. Vor diesem Fest kam Frau Zimmermann für 14 Tage zu uns ins Haus, um es für die vielen Anproben leichter zu haben und wir drei Frauen bekamen neue Kleider. - Ich schlüpfte also vor dem Ausflug in mein Ausgehkleidchen. An die Füße kamen meistens weiße Söckchen und schwarze Lackschuhe, die mit Milch gepflegt wurden. Ins Haar steckte man mir einen Riesenpropeller aus breitem Seidenband und dann gab es haufenweise Ermahnungen, mich ja anständig zu benehmen. Meine Mutter hatte eine strenge Erziehung in einer gutbürgerlichen Kleinstadtfamilie hinter sich, die sich nicht immer auf kleinere Verhältnisse und auf ein Leben in Berlin übertragen ließ. Aber sie bemühte sich. Damals war es mir nur lästig.

Hatten wir uns alle ausstaffiert, setzten meine Eltern ihre Hüte auf und los gings!

Sollte sich der Himmel in der Zwischenzeit doch mit Wolken überzogen haben, blieben wir vorsichtshalber ganz in der Nähe. Vielleicht gingen wir in Müllers Gartenrestaurant, welches da stand, wo heute die Grünanlage vor dem Verwaltungsgebäude vom Tierpark liegt und offiziell Schloß-Park Restaurant hieß - oder in Steiers Waldschloß, etwa gegenüber dem heutigen Bärenschaufenstereingang. Beide waren sehr schöne Ausflugslokale mit großen Bier- und Kaffeegärten.

Ich fühlte mich mit meinem Schicksal ausgesöhnt, wenn wir in die Wuhlheide wanderten. Dorthin ging ich gerne. Von unserer Kriegerheimsiedlung aus, gings unter der Bahnbrücke durch - in Richtung Karlshorst. Da, wo sich die Treskowallee verzweigt, wo das Lokal "Scharfe Ecke" stand, bogen wir in die Waldowallee ein und liefen und liefen, bis wir in die Wuhlheide kamen. Das war ein mächtiges Ende; aber damals lief man bedeutend längere Strecken als heutzutage. Wenn es möglich war, das Ziel zu Fuß zu erreichen - na, dann lief man eben. Endlich erreichten wir die Vorort- und S-Bahnstation Wuhlheide. Dieser Bahnhof hieß vorher viele Jahre Sadowa.
Sadowa ist ein Ort bei Königgrätz in Nordostböhmen. Dort gab es 1866 ein Riesengemetzel. Preußen bekämpfte Österreicher und Sachsen. Wir Preußen siegten und rieben die Heere unserer Feinde fast vollständig auf. 

Zur Erinnerung an diese Schlacht, nannte man den neuen Vorort- und S-Bahnhof "Sadowa". Das hielt dann irgendwer irgendwann für Schnee von gestern und man taufte ihn 1929 um in Wuhlheide. Dort, in unmittelbarer Nähe, lagen mitten im Grünen, unter herrlichen alten hohen Bäumen, mehrere Ausflugslokale. Manchmal wurde die Waldschänke unser Ziel, manchmal ein anderes Lokal. Alle lagen behäbig und gemütlich in einladenden Gärten. Auffallende große Schilder verkündeten schon von weitem "Hier können Familien Kaffee kochen" oder "Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen". An schönen Tagen herrschte regelmäßig ein Mordsbetrieb. Schien die Sonne, dann war ganz Berlin auf Achse. Fast alle diese Lokalitäten, von denen es unsagbar viele in Berlin und Umgebung gab, waren weiträumig angelegt. Da gab es fast immer einen Hof mit Stallungen und Remisen. Mit Pferden bespannte Kremser und Kutschen mußten eingestellt, die Tiere gefüttert und getränkt werden. Fast immer gab es eine Schieß- und eine Würfelbude - für drei Sechsen einen Aal oder Papierrosen. Immer gab es einen Spielplatz und an besonderen Tagen einen Onkel Pelle, der sich stundenlang den Kindern widmete, damit die Eltern ihre Ruhe hatten.

Wir hielten erstmal Ausschau nach einem freien, bunt eingedeckten Tisch, denn die meisten waren schon von lärmenden vergnügten Menschen in Besitz genommen. Hatten wir einen ergattert und uns niedergelassen, winkte mein Vater gleichmal dem Ober, der eilfertig ein großes Bier brachte. Die Ober flitzten noch wie die Bienen und schleppten riesige Tabletts voller Getränke. Zu uns Mädchen sagte meine Mutter: "Wir trinken zuerst Kaffee!" Aber vom Schaum auf dem Bierglas meines Vaters durfte ich immer naschen. Gisela schüttelte sich angeekelt. Ich mochte den bitteren Geschmack. Wir Mädchen begaben uns mit unserer Mutter in die große Küche des Hauses. Dort standen ganze Stapel dickwandigen Porzellangeschirrs bereit und jeder durfte sich zusammenstellen, was er für seine Familie brauchte.

Für ein paar Pfennige gab es ein Kännchen Sahne. Gisela trug das Geschirr an unseren Tisch, deckte ihn und stellte den Kuchen dazu, den wir von zu Hause mitgebracht hatten. Ich blieb bei meiner Mutter und verfolgte neugierig, was weiter geschah. Aus einem Sortiment Kaffeekannen wählte sie die, die ihr in der Größe passend schien und schüttete den gemahlenen Kaffee hinein, den sie auch mitgebracht hatte. Er war immer in einer kleinen spitzen Papiertüte. Plastik gab es viele Jahre noch nicht. Wir stellten uns mit unserer Kanne in eine Reihe von anderen Frauen an den mächtigen Küchenherd. Der stand meistens mitten im Raum und wir warteten, bis wir dran waren. Für wirklich nur wieder ein paar Pfennige, füllte man uns siedendes Wasser aus den summenden Kesseln in unsere Kanne. Wundervoller Duft verbreitete sich. Behutsam trug Mutter den Kaffee zu unserem Tisch und verkündete jedesmal: "Wartet ab - erst muß er sich setzen". Das hieß, der Kaffeegrund sank nach etlichen Minuten nach unten auf den Grund der Kanne und man brauchte kein Sieb - goß von oben das schäumende duftende Getränk ab, in die Tassen. Hatte einer von uns ein Schaumkleckerchen auf seinem Kaffee, riefen die anderen: "Du kriegst heute noch einen Kuss!"

Zur musikalischen Unterhaltung der Gäste spielte eine Kapelle, so genannte Kaffeemusik.

Ich hatte zuerst meinen Kuchen aufgegessen und streuselte durch den Garten, um zu kontrollieren, ob andere Kinder da waren - und was für welche. Meistens tobte jede Menge um die Tische herum und nachdem wir uns lange genug beäugt hatten, tobte ich mit. Natürlich nach fälligen Ermahnungen meiner Mutter - aber ich hatte doch den Verdacht, daß sie froh war, mich eine Weile los zu sein.

Gleich wenn die Kaffeezeit vorüber war und die Rennerei mit dem Geschirr aufgehört hatte, wurde die Kapelle um etliche Mann aufgestockt - und der Tanz begann. Los gings mit schwungvollen Weisen und ganz ohne Verstärker oder dröhnende Lautsprecher, denn unsere Ohren waren noch in Ordnung. Man drehte und wiegte sich auf dem Pariser - so nannte man damals die Tanzfläche. Entweder er bestand aus gegossenem Zement oder aus Bretterholz.

Gisela fing an, etwas unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Manchmal flitzten ihre Blicke abschätzend durch die Gegend und über die näheren Tische. Es dauerte auch gar nicht lange und der erste Jüngling kam angeeilt - verneigte sich vor unseren Eltern und fragte: "Gestatten Sie, daß ich mit Ihrem Fräulein Tochter tanze?" Ja, sie gestatteten es!

Zutiefst befriedigt, nicht als Mauerblümchen sitzenbleiben zu müssen, erhob sich Gisela würdevoll und ging stolz mit ihrem Kavalier zur Tanzfläche. Ich schielte neidisch hinterher und bedauerte von Herzen, noch nicht groß zu sein wie sie. Wenn ein junger Mann diese Form der Aufforderung zum Tanz einhielt, gefiel das meiner Mutter. Aber zu ihrem Leidwesen hing der Verfall der guten Sitten drohend über der Menschheit, denn der größte Teil der anwesenden Jung-Männerwelt machte es sich einfacher - verneigte sich nur kurz vor der begehrten Weiblichkeit und murmelte: "Darf ich bitten?" und kümmerte sich um die Eltern nicht die Bohne.

In fast allen Gartenlokalen waren Tanzbändchen für die Herren üblich. Entweder man erwarb so ein Bändchen für eine kleine Summe für den ganzen weiteren Verlauf der Tanzveranstaltung oder nur für drei Tänze. Drei Tänze kosteten natürlich bedeutend weniger Groschen und man konnte ja auch beliebig nachkaufen. Damen durften umsonst tanzen; brauchten keine Bändchen. Die bunten schmalen Bändchen, manchmal noch mit einem Blümchen verziert, befestigten sich die Herren im Knopfloch ihres Anzugrevers. Ein Tanzordner erkannte an den verschiedenen Farben der Bändchen, ob jemand schummelte - und wenn, dann bat er den Sünder zur Kasse.

Zwischendurch gab es Gesangseinlagen. Sie waren sehr beliebt bei allen und wurden reichlich beklatscht. Ein brillantineglänzender schwarzgelockter Tangosänger sang schmalzige Lieder von Liebe und dunkler Leidenschaft. Das war was für mich! Voller Andacht und Hingabe lauschte ich. Mein Vater nannte ihn nur verächtlich "Fatzke".

Ein älterer Herr brachte derbere Lieder dar: Etwa "Die krumme Lanke" oder "Zickenschulze aus Bernau" oder "Fritze Bollmann". Diese Lieder wurden von den Berlinern sehr gern gehört und temperamentvoll mit gebührendem Beifall belohnt.

Abends brannten bunte Lampions und lockten Schwärme von Mücken an. Man konnte sich ohne weiteres Schnaps oder Wein von zu Hause mitbringen. Der Ober öffnete die Flasche für ein kleines so genanntes Korkengeld und stellte dafür noch Gläser auf den Tisch. Viele Gäste nutzten diesen Brauch. Es war allgemein üblich und verbilligte die Kosten eines Ausflugs bedeutend. Gab es wider Erwarten ein Gewitter oder einen Regenschauer, flüchteten alle lachend und kreischend mit Gläsern, Tellern und Handtaschen in den großen Saal.

Jedes gute Gartenlokal, das etwas auf sich hielt, hatte auch einen großen Saal. Diese Säle hatten manchmal enorme Ausmaße. Fast immer schmückten bunte Girlanden, die unter der Decke hingen und das ganze Jahr über da baumelten, die etwas triste Langweiligkeit. An jedem Ende des Raumes stand ein wuchtiger Kachelofen, um im Winter wohlige Wärme für die großen Veranstaltungen der unzähligen Vereine zu verbreiten. Mit Lust und guter Laune widmeten sich die Berliner der Vereinsmeierei. Keine Möglichkeit zum Feiern wurde ausgelassen, egal ob Winter oder Sommer.

Das Glück war uns meistens hold und wir aßen unter den alten Bäumen und bei der stimmungsvollen Beleuchtung zu Abend. Eigentlich immer nur Kartoffelsalat und Würstchen. Das war wohl damals das beliebteste, preiswerteste und schmackhafteste Gericht im Angebot. Man aß bescheidener als heute und war trotzdem zufrieden.

Im Innern des Gasthauses, an der großen Theke, an der das schäumende Bier gezapft wurde, stand immer ein Glasschrank, den ich mir jedesmal ansah. Da lagen mit Petersilie verzierte frisch gebratene Buletten auf weißen Tellern. Rollmöpse in blauer Haut und mit leuchtend roten, höllisch scharfen kleinen Paprikaschoten bestreut, drängelten sich dicht an dicht in einer immer viereckigen Glasschale. Immer stand da ein hohes durchsichtiges Glas, in dem in scheußlich trüber Salzlake Soleier schwammen. Die fand ich ekelhaft und unappetitlich. Die giftgrünen Gewürz- und Pfeffergurken, die nie fehlten, gefielen mir schon besser.

Im Garten des Lokals stand ein Automat, den ich sehr liebte. Steckte man ein Geldstück hinein, schrie es in ihm ganz laut Kikeriki, dann rumpelte es und unten fiel ein buntes Blechei heraus, das kleine süße Bonbons enthielt. Das spendierte mir mein Vater jedesmal. Einmal war meine Oma aus Witten dabei und sagte zu ihm, als er gerade den Automaten füttern wollte: "Paul, muß denn das sein? Du verwöhnst das Kind zu sehr!" Von da an hatte sie bei mir verspielt. Das weiß ich noch nach 60 Jahren. Mein Vater hatte natürlich den Automaten doch Kikeriki schreien lassen.

Meine Mutter trank gerne süßen Insel-Samos-Wein und mein Vater kühles gelbes Bier, ich Apfelsprudel und Gisela eine Weiße mit Himbeerschuss.

Wenn es dunkelte, rief Onkel Pelle alle Kinder zu sich. Wir reihten und ordneten uns zu einer langen Schlange, bekamen eine Papierlaterne in die Hand gedrückt und er führte uns im langen Fackelzug durch den Biergarten und rundherum ums Gasthaus. Vornweg Onkel Pelle mit lustigen Späßen und wir Kinder sangen alle vergnügt: "Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne."

Je weiter der Abend fortschritt, um so lauter wurde das Lachen der Frauen und um so wilder die Tänze der Pärchen. Ich fand das dann gerade erst interessant - aber ausgerechnet dann behauptete meine Mutter regelmäßig, nun sei es höchste Zeit aufzubrechen. Und so geschah es.

Für den Heimweg wählten wir meistens einen anderen Weg. Nun marschierten wir durch die Wuhlheide, am kleinen Freiluftbad vorbei, bis wir auf die Treskowallee stießen und mit der Straßenbahn 69 nach Hause fahren konnten. Müde, wie wir alle nach dem schönen Ausflug waren, fanden wir es so bequemer.

Eines Abends, ehe wir vom Lokal aus aufbrachen, fragte ein besonders netter und höflicher junger Mann, meine Eltern, ob sie gestatten, daß er das Fräulein Gisela bis zur Straßenbahn begleiten dürfte. Ja - weil er so einen guten Eindruck machte, erlaubten es die Eltern. Na, das war für mich ein gefundenes Fressen. Neugierig umkreiste ich das Pärchen. Natürlich mußten die beiden jungen Leute brav vor unseren Eltern hergehen, damit sie unter Aufsicht standen. Gisela warf mir ab und zu giftige Blicke zu und verscheuchte mich so gut sie es vermochte; aber ein paar Worte ihres Begleiters schnappte ich doch auf. Er flüsterte ihr zu: "Ach, Fräulein Gisela, sie haben so schöne schwarze Augenbrauen!"

Na, das war ja was für mich und ich neckte sie ewig mit ihren Augenbrauen, was verständlicherweise jedes mal bei ihr einen Wutanfall auslöste.

Am nächsten Sonntag schnürte mein Vater bestimmt nicht das Korsett meiner Mutter, denn dann stiegen beide in ihre Motorradkombinationen und wir knatterten über Land.

Kein einziges der großen Lokale, die ich einmal kannte, hat die Zeiten bis heute überstanden. Alle sind verschwunden - entweder ausgebombt, abgerissen oder einfach verfallen.

Der einzige große Saal, den ich kennenlernte und der noch existiert, ist der Tanzsaal des Lokals "Deutsches Haus" am S-Bahnhof Karlshorst. In ihm feierten alle Karlshorster Vereine Veranstaltungen. Ich glaube, das Deutsche Haus war die wichtigste Lokalität in der Gegend. Heute ist der schöne Saal mit seiner Bühne, die es damals auch schon gab, der Zuschauerraum vom Theater Karlshorst.

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