Hans und Inge Benda
Ich war total
irritiert. Warum wollte mein kleiner Freund nicht mehr mit mir spielen? In
meinem kleinen 7- oder 8-jährigen Köpfchen ratterte mein Sündenregister. Mit was
hatte ich ihn so sehr verärgert? Mir fiel wirklich nichts ein. Meine Mutter
sagte zwar öfter, ich hätte es faustdick hinter den rosigen Ohren. Ja, ja – ich
war manchmal zu kiebig, etwas rechthaberisch und oft übermütig.
Aber dadurch hatte sich mein kleiner Freund Hänschen Benda nie abschrecken
lassen. Wir hatten beide oft zusammen gespielt. Ich spielte gerne mit ihm. Er
sah so lieb aus wie er war – rund und pummelig, er lachte gerne und seine
dunklen Knopfaugen blitzten dann lustig.
Aber alles ließ er sich auch nicht gefallen. Wenn es ihm reichte mit mir, ließ er mich wortlos stehen und ging weg. Da konnte ich hundertmal rufen, bleib doch hier. Hänschen haute ab, aber am anderen Tag kam er wieder, als wäre nichts gewesen.
Aber nun, auf
einmal kam er nicht mehr zum Spielen. Ich klingelte immer wieder, aber niemand
öffnete. Dabei sah ich genau, daß er hinter der Gardine stand und auf mich
runter sah. Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, klingelte ich jeden Tag.
Eines Tages war die Gardine einen Spalt auf und zu meiner Freude stand Hänschen
sichtbar am geschlossenen Fenster.
Ich machte Faxen für ihn, hopste und winkte, er solle rauskommen zu mir. Aber er
sah mich nur traurig an und schüttelte leicht mit dem Kopf. Ich verstand das
nicht und sagte mir, es kann ja nur sein, daß er eine ganz doll ansteckende
Krankheit hat und wenn er gesund ist, wird er wieder zu mir rauskommen.
Aber Hänschen kam nie wieder zu mir raus, nie wieder!
Hänschen hieß
mit richtigem Namen Hans Benda und hatte eine Schwester namens Inge Benda.
Während Hänschen und ich so ungefähr 7 oder 8 Jahre alt waren, war Inge
vielleicht 13 bis 15 Jahre alt. Mir kam das unheimlich alt vor, richtig
erwachsen. Zu ihr hatte ich so gut wie keine Beziehung. Nur zu dem pummeligen
Hänschen.
Die Kinder wohnten mit ihren Eltern in der Splanemannsiedlung, der damaligen
Kriegerheim – Siedlung. Dort wohnten vornehmend Kriegsteilnehmer des ersten
Weltkrieges 1914 bis 1918, die eine schwere Verwundung erlitten hatten. Daher
vermute ich, daß auch Herr Benda für Deutschland gekämpft hat. Die Familie
wohnte in der Splanemannstraße, damals Kriegerheimstraße Nr. 15.
Wenn man vom Triftweg
aus, heute Ontarioseestraße, in die Splanemannstraße reinkommt, lag die Wohnung
in dem linken Häuserblock im dritten Eingang auf der linken Seite, im
Hochparterre links.
Auszug aus
den Berliner Adressbüchern von 1934 und 1935.
1936 wird die Familie nicht mehr geführt.
Quelle: Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Eines Tages stand das Hänschen nicht mehr am Fenster und dann nie mehr und die Gardinen blieben unbeweglich. Ich weiß nicht mehr in welcher Situation, sicherlich als ich ein Gespräch der Erwachsenen belauschte, was ich gerne tat: „Haben sie schon gehört? Die Bendas hat man alle im Morgengrauen abgeholt!“
Ich staunte!
Abgeholt? Wo kam man hin, wenn man abgeholt wurde? Konnte jeder abgeholt werden?
Einfach so weg von Zuhause?
Das machte mir große Angst und ich fragte meine Mutter wohin man Hänschen wohl
gebracht haben könnte.
Meine Mutter war scheinbar genauso ratlos wie ich. Sie sagte, genau wisse sie
das auch nicht. Sie habe aber gehört, daß die Leute abgeholt wurden und in große
Lager kamen, um dort zu arbeiten. Genau wisse sie das auch nicht. Mir kam die
ganze Sache spanisch und irgendwie angsteinflößend und bedrückend vor.
Eines Tages kam ein Lastwagen, lud den ganzen Haushalt der Bendas auf, es zogen
neue Mieter ein und von den Bendas erfuhr man nie wieder ein Wort. Sie blieben
verschwunden.
Von der Judenverfolgung und Vernichtung wusste ich damals noch nichts. Aber ich
vergaß Hänschen nicht.
Mehrere Jahrzehnte später, als ich von Hänschen erzählte, erkundigte sich eine Freundin, ich weiß nicht wo, nach dem Schicksal der Familie Benda. Sie erfuhr, daß man sie in ein KZ abtransportiert hatte. Nur einer der vier Familienmitglieder soll überlebt haben. Ob es wohl Hänschen war?
Von Frau
Ursula Neuss, einer leider verstorbenen Bekannten, gelangte ein Schulklassenfoto
aus Karlshorst in meine Hände. Frau Neuss war gerade krank, als das Foto
entstand, aber es zeigt Inge Benda vorne in der ersten Reihe, die als Einzige
Schülerin in eine andere Richtung blickt als die anderen Schülerinnen.
Danke, Frau Neuss.