Die II. Volksschule im Römerweg (1941)

 

Der alte Gebäudeflügel und die Turnhalle des Coppy-Gymnasiums in Karlshorst waren einmal die II. Volksschule im Römerweg. 1935 stieg die Anzahl der schulpflichtigen Kinder beträchtlich an,  so daß die Klassenräume in der 29. Volksschule in der Gundelfinger  Str. nicht mehr ausreichten. Die Schule drohte aus allen Nähten zu  platzen. Also teilte man die 29. in zwei Schulen. Von nun an gab es  die 29. und die II. Volksschule. Zuerst zogen die Klassen der II. mit in das große Gebäude des Karlshorster Lyzeums im Römerweg 2 ein. Dort wurde ich Ostern 1936 als Jahrgang 1929 eingeschult und verbrachte da meine allerersten  1 ½ Schuljahre.  Zur gleichen Zeit baute man fleißig an einem ganz neuen Gebäudekomplex für die II. Volksschule - auch im Römerweg, gar nicht weit entfernt vom Lyzeum. Mit großer Spannung verfolgten wir Kinder das Baugeschehen unserer eigenen Schule.

Endlich im Oktober 1937  war es soweit, daß Einweihung gefeiert werden konnte.  Ich war dabei! Meine Mutter band mir eine extra große Propellerschleife ins Haar und ich durfte ein Sonntagskleid anziehen. Zur Feier des Tages war die neue II. Volksschule im Römerweg festlich  herausgeputzt. Es hingen grüne Girlanden, überall standen Blumentöpfe  und bunte Fahnen wehten im Wind. Wir Schüler sangen Lieder und von  einem Podium aus hielten Männer, meistens in Uniformen, lange Reden,  die mich aber gar nicht interessierten.  In der Schulgeschichte von Lichtenberg, die Herr Werner Schüler und  Herr Baumgart geschrieben haben, steht, es sprach auch unser Rektor  Loeper. Er soll versprochen haben, die Jugend in dem neuen Hause in  echtem nationalsozialistischen Sinne zu erziehen.  Da hatte Rektor Loeper wohl etwas zuviel versprochen. Ich weiß es genau, denn er war nicht nur mein Schulleiter, sondern auch mehrere Jahre  mein viel geliebter Klassenlehrer nach Herrn Ide.

Aber zurück zur Einweihung! Unvergeßlich ist in mir der erste Eindruck haften geblieben, der mich überkam, als wir das neue Gebäude betreten  durften. Nicht wie die Wilden, sondern schön gesittet - so war es uns vorher eingebleut worden. Oh - dieser Duft! Es roch nach Farbe, nach Holz und frischem Tannengrün - köstlich! Wie in allen Schulen gingen von einem langen Flur die Türen zu den Schulklassen rechts und links ab. Aber an dem einen Ende des Ganges an der Giebelwand war ein riesiges buntes Glasbild eingefügt. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war es ein grüner, buntes Feuer speiender Lindwurm, den Siegfried gerade mit  einem Schwert bekämpfte. Ich weiß nicht mehr, ob es auf Glas gemalt war oder bleigefasst. Alle, die ich fragte, ob ich mich richtig erinnere, konnten es mir nicht mehr sagen.  Alle  haben es vergessen. Auf alle Fälle war es großartig! Wo mag es geblieben sein? Jetzt ist in dieser Wand der Durchgang zum neuen  Coppy-Gymnasium. Vermute ich jedenfalls. Ich habe es noch nie betreten.  Nun aber zu den neuen Doppelpulten für die Schüler, die in drei Reihen  hintereinander aufgestellt waren.

Wir saßen ja damals immer zu zweit nebeneinander an einem Pult. Unter der Schreibtischplatte mit dem gefüllten Tintenfaß und der Rille für den Federhalter, befand sich die Ablage für die Schulmappe. Die nagelneuen Möbel verunzierte noch keinen einzigen Kratzer von uns oder von den Schülern, die vor uns mit ihren kleinen  Hinterteilen die Bänke gedrückt hatten.  Unsere tägliche Flasche Milch, Kakao oder Fruchtmilch gab es von nun an in einem extra Milchkeller und im Winter in großen Bassins im Wasserbad erwärmt, was uns richtig luxuriös erschien.  Der Schulhof war dick mit kleinen braunen Kieselsteinen bestreut, die wie rostig wirkten, knirschten und raschelten, wenn wir darüber rannten. Für  unsere Knie erwiesen sie sich als sehr gefährlich.

Ich stürzte einmal schwer beim Brennballspiel und hatte danach praktisch keine Haut mehr auf den Knien.  Leider währte unsere Zeit in der schönen Schule nicht lange. Das Lyzeum hatte sein Gebäude verlassen - es muß ungefähr 1941 gewesen sein - und die II. Volksschule zog mit Sack und Pack dort wieder ein.  Aus unserer schönen neuen Schule holte man alle Bänke und Katheder wieder heraus und richtete alle Klassen mit vielen Bettgestellen, Tischen und Stühlen wieder ein. Für die Dauer des Krieges war sie nun ein Notquartier für Katastrophenfälle. Ich weiß es genau, denn ich war dabei!  Im August 1942, nach einem Bombenangriff, den ich schon in einer anderen Geschichte (siehe Bomben auf Lichtenberg) genauer beschrieben habe, wurden wir ausgebombt - wie man damals so schön sagte. Zusammen mit anderen Familien, denen es  genauso wie uns ergangen war, wies man uns in die neue Römer-Schule ein. Ich legte allergrößten Wert darauf, daß ich mit meinen Eltern in meinem  alten vertrauten Klassenzimmer schlafen konnte.

In der Turnhalle betrieb die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) eine große Küche, damit es uns nicht an Verpflegung mangelte. Nach 8 Tagen gab man uns eine eigene Notwohnung und so konnten wir die Römer-Schule wieder verlassen. Nach dem Ende des Krieges nahm man den Unterricht in ihr vorläufig  nicht mehr auf. Karlshorst war größtenteils von der deutschen Bevölkerung geräumt worden und die russische Besatzungsmacht bewohnte das Sperrgebiet. Es kamen immer mehr Frauen der russischen Offiziere nach Karlshorst - und so ergab es sich eines Tages, daß aus der schönen II.  Volksschule im Römerweg ein Kaufhaus nur für Russen wurde. Man bot  darin alles an, was nötig war - natürlich der damaligen Zeit entsprechend; aber vom Kochtopf bis zur Unterhose war alles vorhanden.  Ich weiß es genau, denn ich war wieder dabei!

Im Winter 1946/47 war ich eine Lieferantin für das Russenkaufhaus geworden. Die Fabrikation von Kinderspielzeug lag noch im Todesschlaf und so stellte ich in eigener Regie Stoffpuppen her. Auch den  Russen gefielen meine Puppen - und so belieferte ich sie in begrenzter  Anzahl.  Das Geld, das ich einnahm, konnte ich auch im Kaufhaus ausgeben. Ich erinnere mich an ein Paar Schuhe, die ich kaufte und an einen kleinen Hängeschrank für Medikamente, den ich erstand.  Auch diese Ära der II. Volksschule ging nach zwei Jahren zu Ende.  Sie sah nun doch schon ganz schön ramponiert aus. Sie stand längere Zeit leer und ich verlor sie aus den Augen, weil ich später in West-Berlin  heiratete. Als ich nach vielen Jahren meine Römer-Schule einmal wiedersehen wollte, fand ich sie als Teil des angebauten Coppy-Gymnasiums wieder.  Sie lebte also. Wann das geschehen ist, weiß ich nicht mehr, denn dabei war  ich nun nicht mehr.

Wenn ich an meine beiden langjährigen Klassenlehrer denke - zuerst war es Herr Ide und danach Rektor Loeper - wird mir warm ums Herz. Es ist,  als würde ich an zwei Väter von mir denken. Es waren zwei ausgezeichnete Lehrer - klug, liebevoll und gerecht. Sie lenkten uns durch die schwierige politische Zeit des tausendjährigen Reiches, ohne uns zum Hass auf  andere Rassen und Völker zu erziehen. Das war damals nicht einfach und nicht selbstverständlich. Ich bin ihnen heute noch dafür dankbar.  Es gab natürlich Pflicht-Lehrprogramme, denen auch sie sich nicht entziehen konnten - die mußten sie durchziehen - aber es kam ja, wie bei allem, auch dabei auf das „Wie“ an. Und so mußte unser Rektor Loeper auch mit uns in die Innenstadt fahren, damit wir uns die Ausstellung ansahen, die ein russisches Dorf zeigte.  Ich erinnere mich an verkommene, Stroh gedeckte Hütten, in denen degenerierte slawische Untermenschen faul herumlungerten.  Es war einfach allermieseste Propaganda, die wir schon damals durchschauten. Jede Schulklasse in Berlin musste diese Ausstellung besuchen. Es war für unseren Rektor Loeper kein Thema, wessen Vater in der Partei war oder nicht. Er fragte nie danach - es spielte keine Rolle für ihn; es war unwichtig.

Natürlich musste er auch Rassenkunde lehren. Ich muß zugeben - das war  schwierig - durch die Zugehörigkeit der Eigenschaften, mit der jede Rasse  eingestuft wurde. Mir fiel jedenfalls ein Stein vom Herzen, als ich nach einer Schädelvermessung zur nordischen Rasse gehörte.   Reue und Scham überkommen mich, wenn ich daran denke, wie sehr wir ihn einmal verletzt haben - einfach nur so - aus purem Übermut. Und das kam so: Eines schönen Tages betrat er unerwartet unsere Klasse mit einer Geige und begann uns etwas vorzuspielen. Wir waren total verblüfft und als eine von uns anfing zu grinsen, grinsten wir bald alle.  Und als er dann auch noch so andächtig guckte bei seinem Spiel, brach Gekicher aus und wollte nicht mehr enden. Sein andächtiges Gesicht bekam einen enttäuschten, ja beschämten Ausdruck. Diesen Wandel werde ich nie vergessen. Wir hatten ihm sehr weh getan. Er hörte auf zu spielen und packte seine Geige behutsam ein. Ehe er unsere Klasse verließ, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns: „Ihr seid einfach noch nicht reif genug!“ Wir saßen ganz bedeppert und über uns selber erschrocken da. Er hat uns nie  wieder etwas vorgespielt.

Schmunzeln muß ich dagegen, wenn ich an die Ausflüge denke, die er mit uns  gemacht hat. Jedesmal gab mir mein Vater eine gute dicke Zigarre mit Bauchbinde für ihn mit. Mein Vater vertrat die Ansicht, ohne eine gute Zigarre sei kein Lehrer in der Lage, einen Ausflug mit so einer Horde übermütiger Mädchen zu überstehen. Unser Rektor Loeper rauchte sie auch wirklich immer mit größtem  Behagen und ausgesprochener Gelassenheit, einen fröhlichen Zug dabei im Gesicht.  Einmal, während eines Ausfluges nach Potsdam, kaufte er sich etwas in einem Herrenbekleidungsgeschäft. Hinterher nahm er mich beiseite und bat mich, auch in den Laden zu gehen und drei Gummikragen für Oberhemden zu kaufen. Ich tat ihm sogleich den Gefallen und bekam die Dinger auch. Oberhemden hatten früher oft statt fest angenähte Kragen nur einen kleinen Stehrand, auf den man auswechselbare Kragen aufknöpfen konnte. Als die Zeiten so schlecht waren, gab es eben praktischerweise auch Gummikragen.  Er ließ uns Weiß- Misch- und Vollkornbrot einzeln hintereinander ganz, ganz  langsam kauen, um uns zu beweisen, wie süß und würzig das volle Korn  schmeckt.

Er brachte uns bei, wie man eine Klingel legt, und erklärte uns, wie in einer  Wohnung die elektrischen Kabel verlegt sind - wo sie unter Putz und Tapete  versteckt sind - nicht etwa schräg oder wild durch die Stube, sondern nach  genauen strengen Regeln.  In der Vorweihnachtszeit 1942, ich war gerade 13 Jahre alt, erlaubte er mir,  dass ich mit der Klasse ein Theaterstück einstudiere. Nach dem Grimms-Märchen: „Die zertanzten Schuhe“ hatte ich es selbst und ohne fremde Hilfe geschrieben - mit vier Fingern auf einer alten Adler-Schreibmaschine. Ich verbrauchte irrsinnig viel hauchdünnes Durchschlagpapier und jede Menge Blaupapier. Ich nähte sogar die Kostüme selber aus Krepp-Papier, wenn wir nichts Besseres auftreiben konnten. Wochenlang fielen Turnen und Handarbeit aus, weil wir probten. Sogar die weißen Lockenperücken bastelte ich selber aus eng anliegenden Mützen, dick mit Engelshaar benäht. Zur Weihnachtsfeier  führten wir das Stück in der Aula des Lyzeums vor der ganzen Schule auf. Es  war prima und wurde ein großer Erfolg. Leider hat keine einzige Textseite die Jahre überlebt. Wenn ich das, was ich damals verzapft habe, heute mal lesen könnte, würde ich mich vielleicht schieflachen.  Etwas prüde ist er wohl gewesen, unser lieber Rektor Loeper - aber das spiegelt nur die damalige Zeit, in der wir lebten, wider.

Eines schönen Tages erwischte er mich mit einem Buch, das ich heimlich unterm Pult versteckt las. Er nahm es mir aus der Hand, blätterte darin herum und  richtete dann seinen vorwurfsvollen Blick auf mich und sagte: „Aber Rosemarie! Das ist doch noch nichts für dich!“ Dazu muß ich aber sagen, dass ich 14 Jahre  alt war und das Buch aus der Trotzkopf-Serie stammte. Der Titel: „Trotzkopfs Brautzeit“. 
Ach, und Herr Ide, der vor Rektor Loeper jahrelang unser Klassenlehrer war... ein lieber sanftmütiger Mann, klein und gemütlich rund. Was in mir vorging, als ich eine der untersten Klassen besuchte, weiß ich heute auch nicht mehr. Na,  jedenfalls, wenn die Schule aus war und wir die Klasse verlassen durften, knickste ich immer noch einmal vor Herrn Ide und sagte:“ Bitte grüßen Sie ihre Frau von mir, Herr Ide“! Das ging lange Zeit so. Herr Ide ertrug es schmunzelnd  und gelassen.  Eines Tages klopfte es an unsere Klassentür und eine hübsche Dame mit einem  eleganten großen schwarzen Hut, trat ein. Ich mußte vortreten, um die Dame  zu begrüßen. Vermutlich sah ich dabei etwas dümmlich und verständnislos aus, denn die Dame lachte mich an und Herr Ide fragte mich freundlich: „Na, Rosemarie, erkennst du die Dame nicht“? Ich verneinte. Er lachte nun laut: “Na, das ist meine Frau, an die du jeden Tag Grüße bestellen lässt“! Nun lachte auch  noch die ganze Klasse und ich wäre am liebsten in ein Mauseloch gekrochen.  Ich will es nun gut sein lassen - es gibt hunderterlei dieser kleinen Schulgeschichten. Aber eins muß zum Schluß doch noch gesagt werden: Ich danke Ihnen, Herr Ide und  ich danke Ihnen, Herr Rektor Loeper  für die schöne Zeit in der II. Volksschule im Römerweg.

Geschrieben: Rosemarie Erdmann

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