Ein Brief von Gisela (1943)

 mit einem Vorwort von

Rosemarie Erdmann 

Meine erklärenden Vorworte zu dem folgenden Brief sollen ein klein wenig die Zeit widerspiegeln, in der er entstanden ist, damit man die Umstände, die er schildert, besser versteht. 

Meine Schwester Gisela war damals, als sie den Brief schrieb, 24 Jahre alt. Sie war vom Alter her die mittelste von uns drei Schwestern und stammte aus der ersten Ehe meiner Mutter. Dieser Brief von ihr aus Neukuhren an der Samlandküste, auch die Bernsteinküste genannt, in der Nähe vom alten, ehrwürdigen Königsberg in Ostpreußen, ist an den Haushalt unserer Großmutter Emma Gerst in Forst in der Niederlausitz, Sorauer Straße 5, adressiert. Unsere Omama, wie wir sie alle nur nannten, bewohnte in Forst in ihrem eigenen Mietshaus eine größere Parterrewohnung. Sie war schon seit vielen Jahren Witwe. Bei ihr lebte Evchen, die älteste von uns drei Schwestern. Omama hatte sie von Anfang an mit viel Liebe großgezogen. Wir anderen hatten alle unser Zuhause in Berlin. 

Im Hochsommer 1943 flohen meine Mutter und ich vor den entsetzlichen Bombenangriffen nach Forst zu Omama und Evchen. Auch Gisela mit ihrem kleinen Sohn Peter, der erst eineinhalb Jahre alt war, folgten uns, als die Situation in Berlin immer schlimmer wurde. Sie schliefen beide oben im ausgebauten Dachgeschoss in einer Dienstmädchenkammer. Die Tage verbrachten wir gemeinsam in Omamas Wohnung. An den Wochenenden kam mein Vater aus Berlin, um uns zu besuchen. Peter spielte vergnügt in dem kleinen Garten an der Rückseite des Hauses, der direkt an die Bahngleise angrenzte. Zu seinem Entzücken kamen oft große dampfende, fauchende, kohlrabenschwarze Lokomotiven, die nach Cottbus oder über Weißwasser nach Sorau fuhren. Er schrie begeistert auf, wenn eines der Ungetüme direkt vor dem Garten stehen blieb und qualmte und zischte.

Ab und zu fuhr Gisela mal ohne Peterle kurz nach Berlin, um sich um ihre Wohnung zu  kümmern. Sie lag in der Seestraße, zwei oder drei Häuser von der Kirche entfernt. Die zwei großen Zimmer, gut und nagelneu eingerichtet, gehörten zu einem Ladengeschäft, in dem Gisela, ehe sie nach Forst flüchtete, eine Leihbücherei betrieben hatte. 

Als sie wieder einmal in ihrer Wohnung war, traf sie dort mit ihrem Mann, Gerhard Prochnow, zusammen. Gerhard war Soldat bei der Luftwaffe der deutschen Wehrmacht und hatte ein paar Tage Urlaub von seiner Fliegerstaffel bekommen. Die jungen Leute fühlten sich überglücklich über die wenigen gemeinsamen Tage. Gerhard litt an dauernden quälenden Magenschmerzen und sollte in Berlin verschiedene Ärzte zwecks diagnostischer Untersuchungen aufsuchen. 

Während eines schweren Bombenangriffs erlitt Gerhard im Luftschutzkeller einen Magendurchbruch und brach schreiend zusammen. Voller Angst und Ratlosigkeit versuchte Gisela, beruhigend auf ihn einzuwirken, und Gerhards Mutter, die zu Besuch gewesen war, rannte los, um einen Arzt aufzutreiben. Ja, sie fand Ärzte, aber keiner wollte ihr bei dem Bombenhagel folgen. Vor dem letzten, den sie fand, fiel sie auf die Knie und bat ihn voller Verzweiflung händeringend, ihrem Sohn zu helfen. Der Arzt ließ sich tatsächlich erweichen und folgte ihr durch die Bombennacht. Er versorgte Gerhard mit schmerzstillenden Spritzen und sorgte dafür, dass er nach der Entwarnung gleich von einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht wurde, in dem man ihn sofort operierte. Gerhard überstand alles, aber es folgten monatelange Aufenthalte in Lazaretten außerhalb Berlins. Auf diese Weise landete er auch in einem Wehrmachtsgenesungslazarett in Dommelkeim in Ostpreußen.

Meine Schwester kehrte vorläufig zu uns nach Forst zurück, und wir lebten zusammen bis Mitte November 1943. Dann fuhr sie mit ihrem Peterle zu ihrem Mann nach Dommelkeim. Von dieser Reise berichtet sie in ihrem Brief, den sie nach Forst schickte. 

Zwischenzeitlich hatte auch meine Mutter mit mir - ich war damals gerade 14 Jahre alt - Forst verlassen und wir waren zu meinem Vater nach Berlin zurückgekehrt. Wie das Schicksal spielte, kamen wir genau in eine Serie der schwersten Bombenangriffe, die die Stadt je erlebt hatte. Panikartig floh meine Mutter mit mir erneut nach Forst. Im März 1944 besuchte sie mit mir für 14 Tage Gisela und Peter in Neukuhren. Es war bitterkalter ostpreußischer Winter - was uns aber nicht abhielt, zusammen mit Gisela einen Ausflug nach Königsberg zu machen und im Stadtschloss das Bernsteinzimmer zu besichtigen. Als Kriegsbeute hatte es die Wehrmacht aus Sankt Petersburg nach Königsberg gebracht. Dann, Ende März, kehrte meine Mutter mit mir endgültig nach Berlin zurück, weil ich dort eine weiterführende Schule besuchte.

Gerhard wurde nach seiner Genesung auf einen Flughafen weit weg von Neukuhren versetzt und Gisela und Peterle kamen zu uns nach Berlin und wohnten im kleinen Zimmer. Unsere Wohnung lag in Friedrichsfelde in der Kriegerheimsiedlung, heute Splanemannsiedlung. In unmittelbarer Nähe unserer Wohnung standen zwei Flachbunker, in denen nachts Mütter mit kleinen Kindern in Kabinen feste Schlafplätze hatten, damit sie vor den Bomben geschützt die Nächte verbringen konnten. Dort schliefen auch Gisela und Peterle. Ihre Wohnung in der Seestraße fiel Anfang 1945 den Bomben zum Opfer. 

Weil meine Schwester Gisela den Brief der damaligen Zeit entsprechend in Sütterlinschrift geschrieben hat, können die jungen Leute unserer Familie ihn nicht mehr lesen, so auch Peter und Gesine, die beiden Kinder von Gisela und Gerhard. Ich übersetzte ihn zur Freude aller von Sütterlin- in lateinische Buchstaben und habe ihn mit seinen Eigenarten erhalten, so wie er im Original ist. Nur zur besseren Verständlichkeit fügte ich für NSV die genaue Bezeichnung zu.

 

Und nun: Viel Spaß beim Lesen des Briefes von Gisela!

 

Rosemarie Erdmann

 

Neukuhren, den 12.12.43

 

Liebe Mutti, Rosi, Omama + Evchen! 

Muttis liebe Karte haben wir mit bestem Dank erhalten. Gott sei Dank, seid Ihr beide, liebe Mutti, ja nun auch raus aus Berlin. Ich glaube nicht, daß das alles war.

Ihr wollt nun wissen, wie die Fahrt nach hier war. Ich hatte ja einen guten Platz 1. Klasse, aber es war schrecklich warm im Abteil. Peter war müde, hat aber nicht geschlafen; da hatte ich meine liebe Not mit ihm. Kurz nach 7 waren wir dann in Königsberg. Ich hatte zu schleppen wie ein Kamel. Als ich da so alleine und verlassen auf dem Bahnsteig stand, habe ich doch ein bißchen geweint.
Da haben mich fremde Leute gefragt, wo ich hin will. Ihr könnt Euch ja denken wie ich aussah! Den Koffer auf dem Rücken, links und rechts je eine Tasche, den Peter an einem freien kleinen Finger. Dann hat mich ein Fräulein zur Bahnhofs NSV * gebracht. Dort gab man mir einen Zettel mit der Adresse von dem NSV Durchgangsheim.
Das Fräulein setzte mich noch in die richtige Straßenbahn und dann war ich wieder meinem Schicksal überlassen. Ausgestiegen bin ich an der richtigen Stelle - aber nun war es durch die Verdunklung stockduster und ich mußte noch weit laufen - und dann das schwere Gepäck und der Junge mußte auch noch nebenherzotteln, weil doch der Kinderwagen mit Reisekoffer und Bettsack mit der Bahn gleich bis Dommelkeim durchfuhr.
Also wie ich da nun so ein paar Schritte weitergestolpert war, laufen konnte ich nicht
 mehr, da fragte ich einige Passanten, die mir entgegenkamen, nach der Hospitalstr. Nachdem sie mich dann glücklich 3 x hin und her geschickt hatten, habe ich wieder das Heulen gekriegt - und siehe da - es half. Da hat mich ein Mann untergefaßt, den Peter auf den Arm genommen und mich an der richtigen Haustür abgesetzt.

Der 1. Eindruck von dem Heim war sehr verheißungsvoll. Unten in der Aufnahme haben sie mich erst mal mit Gerhard telefonisch verbunden. Der war heilfroh, daß ich da war und hätte es am liebsten gehabt, wenn noch am selben Abend nach Dommelkeim zu ihm gekommen wäre. Aber ich war von der Puckelei so kaputt und dachte "nur ins Bett!" Bloß das war nun auch wieder so ein Ding für sich. Wie mich die Schwestern in mein "Zimmer" bringen, da schlägt mir erst einmal eine Luft zum Umfallen entgegen; die Hälfte des Zimmers war schon bewohnt: 2 Frauen und 5 Kinder und schmutzige Bettwäsche. Nur Peters Bett war sauber.
Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, dann hätte ich lieber die Nacht auf einem Stuhl verbracht, aber so habe ich mich dann angezogen aufs Bett gelegt und ein kleines sauberes Kissen von Peter unter meinen Kopf gelegt und bin, nachdem die jüngere von den beiden Frauen endlich aufgehört hatte ihre Verhältnisse auseinanderzuposamentieren, eingeschlafen. Um ½6 bin ich aufgestanden, habe dem Peter in der Küche Milch geholt und mich um ½7 auf die Weiterreise gemacht.

In der Nacht hatte es geschneit - nassen glitschigen Schnee. Dadurch bin ich zur Straßenbahn buchstäblich gerutscht und geschliddert. Alle drei Schritte lag der Peter im Dreck. Auf dem Nordbahnhof hatte ich noch eine reichliche halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Zuges um 8 und um ½9 waren wir schon in Dommelkeim.

Da waren gleich zwei Soldaten, von Gerhard geschickt zu unserem Empfang. Der eine nahm den Peter und der andere das Gepäck. Gerhard selbst konnte nicht kommen, weil er einen Röntgentermin hatte. Aber als wir durch die Wache des Lazaretts gingen, stand er schon an der Tür. Peter schrie gleich "Papa, Papa". Die Oberschwester von Gerhards Station gab uns das Gästezimmer - dort habe ich ersteinmal gebadet und wie tot geschlafen. Am nächsten Tag hat mich Gerhard dann in mein Quartier gebracht; das war sehr schön - Zentralheizung und reichlich zu essen. Leider ist die Wirtin nach 8 Tagen so frech und unverschämt geworden, da sind wir kurz entschlossen ausgezogen.
Das war aber auch nicht so einfach, weil wir in Neukuhren ein neues Quartier gefunden hatten, aber dahin mußte man erst ½ Stunde mit der Bahn fahren. Aber um da hin zu kommen, mußte man erst länger als ½ Stunde die Chaussee lang laufen. Was das mit unserem Gepäck bedeutete, könnt Ihr Euch vielleicht denken. Wir hatten das Glück, daß unser Zimmerfenster nach der Chaussee hin lag. Jedes Fahrzeug, das in Richtung Neukuhren fuhr, konnten wir schon von weitem erkennen. Wir haben also unsere Klamotten in den Hausflur gestellt und uns fix und fertig angezogen ans Fenster gesetzt. Jedesmal wenn ein Gefährt zu sehen war, ist Gerhard runtergerannt, um es anzuhalten; aber meistens waren es Personenautos oder Pferdefuhrwerke und die konnten wir nicht gebrauchen.
Nachdem wir so eine gute Stunde rauf und runter gerannt waren, setzte Schneetreiben ein, so daß wir nicht mehr weit genug sehen konnten. Endlich kam es mir aber so vor, als wenn da unten ein Lastauto anspringt. Gleich ist Gerhard runtergerannt und hat es angehalten. Wir hatten Glück! Es fuhr bis Neukuhren und wir konnten bis vor die Tür unseres neuen Quartiers mitfahren.

Nun sind Peter und ich hier in Neukuhren. Das Zimmer ist nicht groß. Die ersten Tage haben wir mächtig gefroren, weil sie hier erst abends um 6, ½7 heizen. Aber jetzt hat Gerhard Kohlen organisiert und nun ist es schön warm für uns. Am Sonnabend waren wir in Königsberg. Gerhard ist von da aus nach Berlin gefahren und kam am Dienstag wieder zurück. Papa hat uns was Gutes mitgeschickt. Gerhard wollte den Rotwein mitbringen, aber er hat mit Papa alles durchgesucht - aber ihn nicht gefunden. Ich fahre jetzt jeden Mittag nach Dommelkeim und esse bei Gerhard im Lazarett, dadurch spare ich die Marken. Abends um ½6 fahren wir wieder nach Neukuhren zurück.
Peter geht im Lazarett immer mit dem Papa in die Küche und holt sich ein Süppchen. Auch sonst fällt von den Stubenkameraden immer etwas für ihn ab: ein Glas Sahne oder Kekse, Äpfel, Pudding oder ein Ei. Er weiß schon wo er etwas kriegt oder nicht. Vorgestern hat er einem Soldaten ins Bett gepuscht. Peterle erzählt sehr viel von Omi. An einem Tag sollte ich ihn früh durchaus anziehen, er wollte zur Omi fahren. Am Montag fängt Gerhards Weihnachtsurlaub an. 8 Tage - bis 28.12.

Nun habe ich Euch alles ausführlich geschrieben. Jetzt muß ich den Peter anziehen, Milch holen und zum Bahnhof nach Dommelkeim. Liebe Mutti, Dein Päckchen ist immer noch nicht angekommen. Auch von der Schwiegermutter ist eins schon so lange unterwegs. Nun mache ich aber Schluß. Seid alles recht herzlich gegrüßt und geküßt,

 

von Gisela, Gerhard und Peter 

Ach, beinahe hätte ich es vergessen! Feiert alle Weihnachten recht schön. Vor allen Dingen bleibt gesund. Bei uns wird es sehr trübe aussehen. Denkt mal Heiligabend ein bißchen an uns. Nochmals viele Grüße und Küsse.

 

Gisela

 

Peterle kriegt vom Weihnachtsmann eine Abfahrtskelle.

* Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

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