Kriegsweihnacht 1944 

 

Herbst 2002

Wenn ich in der Vorweihnachtszeit durch die Straßen und Kaufhäuser strolche, auf der Jagd nach Geschenken, überkommt mich Unmut und Ärger - ja, richtiger Ärger. Ich kann den ganzen kunterbunten Weihnachtskrempel nicht mehr sehen. Zu Haufen getürmt liegt er auf den Verkaufstischen - perfekt und bildschön. Kitsch aus aller Herren Länder.

Was soll eine Mutter da noch mit eigenen Basteleien dagegen setzen für ihre Kinder?

Ist der eigene Weihnachtsbaum noch so schön wie er uns einmal in unserer Kindheit vorkam? Ja - er duftet wie früher - aber ist er nicht ein kleines bißchen krumm, hat er nicht da auf der rechten Seite eine etwas kahle Stelle? Die Kunstbäume in den Kaufhallen sind so kerzengerade und so elegant geschmückt. Mit denen kann unser eigener guter Christbaum, mit den alten, aber heißgeliebten Kugeln, die man hütet, weil einige noch aus der eigenen Kindheit sind - und andere aus der Kindheit der Kinder, nicht konkurrieren.

Manchmal sage ich mir: Tu dir doch einfach so viel Kitsch nicht an! Fahre einfach nicht mehr in die Stadt in der Vorweihnachtszeit, damit dir dieser Rummel erspart bleibt.

Neulich beobachtete ich ein kleines Mädchen, das vor mir herlief, genau so alt wie ich es einmal war. Plötzlich lag vor ihr auf dem Bürgersteig ein wunderschöner, kleiner Zweig von einer Edeltanne. Das Mädchen gab ihm einen Tritt und bugsierte ihn in den Rinnstein.

Für mich damals hätte er die höchste Seligkeit bedeutet. Ich hob ihn also auf und nahm ihn mit nach Hause. Es war nur ein Tannenzweig aus dem Rinnstein, aber so einen schönen habe ich in meiner Kindheit nicht besessen. Als Weihnachtsbäume gab es nur die einfachen Fichten zu kaufen - bei uns in der Arbeitergegend jedenfalls. In keinem mir bekannten Haushalt gab es damals je eine Edeltanne.

Ich legte den gefundenen Zweig abends neben eine brennende Kerze. Er war so schön! Er sollte es gut bei uns haben. Vieles fiel mir wieder ein, was ich fast vergessen hatte. 

Ich kann mich noch sehr gut an die Kriegsweihnacht 1944 erinnern. Damals war ich 15 Jahre alt und erlebte sie mit meinen Eltern in unserer Wohnung in Berlin-Friedrichsfelde im Bezirk Lichtenberg. Im August hatte ich meinen fünfzehnten Geburtstag gefeiert. Der Krieg näherte sich dem Ende. Schon im Herbst dachte ich oft an das sich nähernde Weihnachtsfest. Wie eine Oase der Ruhe und des Friedens, in die ich fliehen konnte, lag es vor mir.

Wir gaben uns alle Mühe, das Fest irgendwie zu feiern wie immer; und ich freute mich auch wie in jedem Jahr, aber alles war doch irgendwie anders.

Es wurde noch mehr gebastelt als in den vorausgegangenen Jahren, weil es ja immer weniger zu kaufen gab. Ich war hauptsächlich auf Basteln angewiesen, weil ich kein Taschengeld bekam, sondern nur ab und zu etwas zugesteckt.

Im Geheimen schnitt und klebte ich für meine Eltern ein Transparentbild aus der Umschlagseite eines Schulheftes und buntem durchsichtigen Papier. Es war ein Weihnachtsmann mit einem großen Sack voller Geschenke. Er hat bis heute überlebt und erfreut uns zu jedem Weihnachtsfest wieder. Er erinnert mich immer an 1944. 

Meine Weihnachtspäckchen gingen in jedem Kriegsjahr zeitig auf die Reise.

Vor jedem Kriegsweihnachtsfest packte ich mit meinem Vater drei kleine Päckchen für unbekannte Soldaten. 1944 waren sie sehr klein. Viel kleiner als in den vergangenen Jahren. Aber meine Eltern unterstützten mich in meinem Eifer immer sehr. So befanden sich dann doch in jedem Päckchen Tabak, Rasierklingen, Feuersteine und Weihnachtsplätzchen. Für ein Päckchen hatten wir noch ein Paar Wollsocken. Ob diese Päckchen jemals unbekannte Soldaten erreichten, haben wir nie erfahren. Es kam keine Antwort mehr.

Im BDM versuchte man uns für eine neue Art von Weihnachtsfest zu begeistern - für ein Fest der Sonnenwende und Lichterneuerung. Dazu brannten auf den Bergen große Feuer und die jungen Leute tanzten singend drum herum oder sie sahen bei markigen Sprüchen über Ehre und Vaterland in die Flammen.

Stille Nacht- heilige Nacht paßte nicht mehr - das wurde nicht mehr gesungen. Das neue Lieblingslied war: „Hohe Nacht der klaren Sterne“, was ja unbestreitbar auch ein schönes Lied ist.

Kirche, Weihnachtsmann und Engelchen verpönten sie als kitschigen Kinderkram. Den Weihnachtsbaum ließ man zwar noch gelten - aber anders. Nicht mehr mit Lametta und Glitzerkugeln, sondern mit richtigen Äpfeln (dabei gab es kaum welche) , mit Nüssen und mit Strohsternen.

Ja, ja, das fanden wir alle recht hübsch, recht hübsch und wir machten im Dienst, wie man unsere BDM-Heimabende nannte, auch Julklapp mit. Julklapp sollte die von uns so geliebte Bescherung ersetzen. Na, das war ja nun kein Vergleich - fanden wir alle.

In jeder Familie, die ich kannte, feierte man das alte geliebte Weihnachtsfest auf traditionelle Weise - mit Lametta, Engelchen und Weihnachtsmann.

Es blieb uns allen ein Rätsel, aber meine Mutter brachte es fertig, wie zu jedem Weihnachtsfest, auch 1944, Stollen zu backen. Das war nicht so einfach wie in der heutigen Zeit. Damals war es ein Familienereignis: Mutti backt Stollen! Der Tag war wie heilig und ich erinnere mich, daß sie über dem Teig das Kreuz schlug. Und mit welcher Andacht wurden die goldfarbenen Brote dann lüstern betrachtet und begutachtet. Waren sie aufgegangen? Waren sie schwer genug? Würde man es sehr schmecken, daß sie weniger Fett, weniger Zucker, weniger Rosinen und Mandeln enthielten?

Aber nun waren es nur noch 14 Tage bis Weihnachten. So lange sollten die Stollen immer ablagern, um ihren vollen Geschmack zu entwickeln. Oh, welcher Duft! Es war kaum auszuhalten - und je schlechter die Zeit, um so köstlicher der Duft!

Für die Weihnachtsfeiertage sparte man wochenlang vorher  Lebensmittelmarken oder kleine Vorräte. Es sollte möglichst wenigstens an den Feiertagen alles üppiger sein. Die Frauen tauschten eifrig Plätzchenrezepte untereinander aus. Es gab Rezepte für Plätzchen mit einem Ei - und Rezepte ohne Ei - mit Fett - und ohne Fett. Begeistert sammelte ich alle Rezeptarten, denn ich übernahm in diesem Jahr vollständig die Weihnachtsbackerei. Backaromen für Vanille, bittere Mandeln, Rum und sonsterwas spielten damals eine Riesenrolle. Ich meisterte die Sache fabelhaft und sonnte mich in dem Lob der Familie. Später wurden sie, ganz genau abgezählt, auf die bunten Teller verteilt.

Ich war in dieser hungrigen Zeit ganz verrückt auf Kochrezepte. Auch auf die, die ich damals gar nicht nachkochen konnte, weil es die Zutaten überhaupt nicht gab. Aber ich träumte mit Leidenschaft von ihnen und fing an, mir eine Rezeptkartei anzulegen.

Damals sangen wir in der Schummerstunde noch Weihnachtslieder und am Heiligen Abend sagten die Kinder vor dem Christbaum ihr Gedicht auf.

Ach, der Weihnachtsbaum! Der war 1944 eine mickrige Krücke. Aber wir liebten ihn und bewunderten ihn und schnupperten seinen Tannenduft. Wir waren sehr froh, ihn ergattert zu haben, denn es gab fast keine Tannenbäume zu kaufen.

Auch die Kohlen waren äußerst knapp, aber meine Mutter hatte zwei Eimer voll extra für die Feiertage reserviert, damit ausnahmsweise auch das Schlafzimmer geheizt werden konnte.

Ewig wurde beraten, was es am Heiligen Abend als Festessen geben sollte. Wir blieben, wie meistens, bei Kartoffelsalat und Bockwurst. Es gelang meiner Mutter auch, Bockwürste aufzutreiben. An die Mahlzeiten der Feiertage habe ich keine Erinnerung mehr, aber gewiss war es kein Gänsebraten und kein Hasenbraten wie in früheren Jahren, denn die Haken auf dem Balkon, an denen in Friedenszeiten diese schmackhaften Tierchen zum Abhängen gebaumelt hatten, blieben schon lange leer.

Wir besaßen schon damals, noch aus der Vorkriegszeit elektrische Weihnachtskerzen. Nun, 1944, ein Riesenärgernis in Kettenform für meinen Vater. Die Drähte verrotteten langsam und die Kerzen gaben nach und nach den Geist auf. Ersatz gab es nicht. Aber mein Vater konnte fast alles. Mit List und Tücke, viel Zeit und kleinen Drahtstückchen und vielen unweihnachtlichen Flüchen, brannten die Kerzen zum Fest.

Natürlich sah unsere Weihnachtsstube nicht mehr aus wie früher. An den Fenstern hingen keine Gardinen mehr. Die hatten die Explosionen der Bomben längst weggefetzt. Die Fenster waren mit dicken Decken verhangen wegen der strengen Verdunklung. Die Rollos waren nämlich den Gardinen gefolgt. Der Lampenschirm, der mal aus Seide gewesen war, hatte einen Nachfolger aus Pappe. Der Teppich war eingerollt wegen des ewigen Zementdrecks und der Glassplitter, die rumflogen, wenn der Luftdruck einer Bombenexplosion die Fensterscheiben wieder bersten ließ.

Es war damals üblich. die Weihnachtsgeschenke nicht offen auf den Gabentisch zu legen, sondern sie in weißes, weiches Papier zu hüllen, auf das meistens kleine, grüne Tannenzweiglein gedruckt waren. Das war im Krieg natürlich schwer aufzutreiben. Wir hüteten es von Fest zu Fest, genau wie das Gold- und Silberband, das schon total verkrumpelt war. In einem Karton wurde es über Jahre aufbewahrt und vor den Festen sorgsam gebügelt und wieder benutzt. Buntes Weihnachtspapier gab es damals noch nicht.

Für mich hatten meine Eltern auch im letzten Kriegsjahr zu Weihnachten Überraschungen bereit. Liebevoll von irgendwoher organisiert. Ich erinnere mich an ein Nachthemd aus rosa Flanell, das ich aber gar nicht anziehen konnte. Wir trugen alle keine Nachtwäsche mehr, denn, wenn wir ins Bett gingen, zogen wir uns nicht aus, sondern an. Über meine Unterwäsche und die langen Strümpfe zog ich einen Trainingsanzug, ehe ich mich ins Bett legte. Wenn das Heulen der Sirene uns dann aus dem Schlaf riss, also wieder Fliegeralarm war, konnte man schneller in Schuhe und Mantel schlüpfen, um in den Bunker zu rennen.

Dann bekam ich eine Umhängetasche aus zusammengenähten Bordüren, denn Ledertaschen gab es nicht.

Und dann das Hauptgeschenk: Ein riesiges Wilhelm Busch-Album.

Die Feiertage waren für mich gerettet! Wo meine Eltern das wohl aufgetrieben haben? Sicherlich eingetauscht gegen etwas anderes. Ich hüte es heute noch und habe meine Freude daran.

So armselig wie sich das heute alles anhört, so herrlich war es damals. Wir ließen uns nicht unterkriegen. Wir ließen diesen verdammten Krieg - Krieg sein - und feierten unser Weihnachtsfest nach alter Sitte.

Wir versuchten es jedenfalls.

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